Missionszeitschrift «alle welt» interviewte die Nichte Johannes XXIII., Sr. Anna Roncalli
Wien-Asmara, 28.8.00 (KAP) Papst Johannes XXIII. wird am 3. September selig gesprochen. «alle welt», die Zeitschrift der Päpstlichen Missionswerke in Österreich («Missio»-Austria) führte aus diesem Anlass ein Gespräch mit der Nichte des Roncalli-Papstes, Anna Roncalli. Sie ist Mitglied der Comboni-Schwestern und seit Jahrzehnten in Eritrea tätig. «Kathpress» dokumentiert dieses Interview im Wortlaut:
Frage: Schwester Anna, am 3. September wird Ihr Onkel, Papst Johannes XXIII., selig gesprochen. Hatten Sie als Kind viel Kontakt zu ihm?
Sr. Roncalli: Ich bin 1923 in Sotto il Monte geboren und wuchs in seinem Vaterhaus auf, mit seinen Eltern, die meine Großeltern sind. Zusammen mit meinen Geschwistern waren wir ungefähr 20 Leute im Haus. Da mussten wir sparsam sein, aber Polenta gab es immer genug. Mein Onkel kam jedes Jahr in unser Dorf auf Urlaub. Damals war er gerade Apostolischer Gesandter in Bulgarien, dann in der Türkei und in Griechenland. Wir, das heißt meine Geschwister, Cousins und Cousinen, gingen dann gewöhnlich zur Messe, die er um 8 Uhr feierte. Nach der Messe machte er oft einen Spaziergang durchs Dorf, um seine Brüder und die Leute zu grüßen. Uns Kindern brachte er Kekse und Süßigkeiten. Wir hatten großen Respekt vor ihm und wollten ihn nicht stören, da er doch während des ganzen Jahres immer viel Arbeit hatte. Ab und zu lud er uns aber zu einem Ausflug ein, z.B. zum Lago maggiore, worauf wir uns besonders freuten. Im Jahr 1932 wurde ich zusammen mit vielen anderen Kindern im Dorf von ihm gefirmt. Es war ein ergreifendes Erlebnis. Liebenswert war er schon sehr. Er hatte einfach ein Herz für die Menschen, und uns Kinder liebte er besonders.
Frage: Welche Erfahrungen und Erlebnisse haben den Weg Ihres Onkels geprägt?
Sr. Roncalli: Mein Onkel war, glaube ich, sehr geprägt von seinem Elternhaus mit einer tiefen Religiosität sowie einem Sinn für harte Arbeit und absolute Redlichkeit. Einschneidend für ihn waren sicher auch seine Jahre im Priesterseminar von Bergamo, dann sein Dienst in Südosteuropa, Italien und Paris. Einmal, als er während des Krieges, ich glaube, es war 1941, von der Türkei auf Urlaub kam, erinnere ich mich, dass er voll Mitleid und Sorge sagte: «Die Leute leiden Hunger. Jetzt haben sie noch etwas, aber wenn der Winter kommt...» Er fuhr damals in den Vatikan, um dort einen dringenden Notruf zu übermitteln und den Papst um Rat zu fragen. Ich weiß, dass er viel für die Not leidenden unternahm. Die Begegnungen mit den verschiedenen Religionen und Bevölkerungs-Schichten, sowohl mit den Politikern als auch mit den Armen, haben seinen geistigen Horizont und sein Herz sicher sehr weit gemacht. In Osteuropa traf er ja mit Orthodoxen und Muslimen zusammen und zeigte für alle großen Respekt.
Frage: Was dachten Sie, als Ihr Onkel zum Papst gewählt wurde?
Sr. Roncalli: Als er gewählt wurde, 1958, war ich schon neun Jahre lang in Eritrea. Während des Konklaves verfolgte ich mit meinen Mitschwestern die Vorgänge in Rom. Ich wusste, dass auch mein Onkel unter den dort versammelten Kardinälen war, dachte aber, er sei mit seinen 77 Jahren schon viel zu alt, um noch Papst zu werden. Dann hatte ich eines Nachts einen Traum, der mir bis heute deutlich in Erinnerung ist. In jenem Traum blätterte ich mit einer damals bereits verstorbenen Mitschwester eine Zeitschrift mit den Fotos der beim Konklave anwesenden Kardinäle durch. Beim Bild meines Onkels bemerkte sie: «Schau ihn dir gut an. Er ist zwar schon alt, aber genauso heilig wie sein Vorgänger...»
Als er dann wirklich zum Papst gewählt wurde, läuteten in der Kathedrale von Asmara (der Hauptstadt von Eritrea, Anm.) alle Glocken. Ich war natürlich sehr gerührt und voll Freude über die Wahl. Ich durfte sofort auf Heimaturlaub fahren, und so konnte ich bei der Papstkrönung in Rom dabei sein. Es war großartig. Als ich nach drei Monaten wieder nach Eritrea abreiste, ging ich noch einmal zu meinem Onkel in den Vatikan, um mich von ihm zu verabschieden und um seinen Segen zu bitten. Und als er fünf Jahre später im Sterben lag, durfte ich mit den engsten Angehörigen die letzten drei Tage seines Lebens bei ihm sein. Ich erinnere mich an die Menschenmenge, die damals auf dem Petersplatz versammelt war, um für ihn zu beten. Die Leute liebten ihn so sehr, denn sie sagten: «Dieser Papst versteht uns gut, denn er kommt auch aus einer einfachen Arbeiterfamilie». Und dann, am Pfingstmontag 1963, ging er hinüber zum himmlischen Vater. Mir fiel dies auf, dass es gerade Pfingsten war, wo Papst Johannes XXIII. doch auch eine sehr geistbegabte Persönlichkeit war, ein Werkzeug des Heiligen Geistes.
Frage: Wie beurteilen Sie sein Pontifikat? Er hat ja durch die Einberufung des Konzils die Kirche entscheidend beeinflusst und ging als der «gütige» Papst in die Geschichte ein.
Sr. Roncalli: Sein Pontifikat sehe ich als ganz großartig an! Durch sein «Aggiornamento» hat er wirklich einen Weg eröffnet, sodaß die Kirche die Zeichen der Zeit als Herausforderung annahm. Die Zeit bleibt ja nicht stehen, die Welt hat sich so viel gewandelt, und durch das Konzil ist die Kirche dieser Bewegung nachgekommen. Auch in Afrika haben wir Schwestern das bemerkt, zum Beispiel die neue Wertschätzung für die anderen Völker und Kulturen. Die Sprachen der Völker lernen, den Dialog suchen zu den anderen christlichen Kirchen und zum Islam: Vieles, was unser Gründer Daniel Comboni uns vorgezeichnet hat für die Mission, wurde nun endlich auch kirchlich anerkannt. Meiner Meinung nach ist viel Gutes durch das II. Vatikanische Konzil aufgebrochen, und mein Onkel war dazu sicherlich der Wegbereiter. Extreme sind freilich immer zu meiden. Und der heute oft zu beobachtende Individualismus, auch in kirchlichen Kreisen, war sicher nicht im Sinne meines Onkels.
Frage: Welchen Beitrag hat Johannes XXIII. Ihrer Meinung nach speziell für die neue Sicht von Mission und für den Dialog der Religionen geleistet?
Sr. Roncalli: Ich glaube doch, dass die Mission ein Herzensanliegen von Papst Johannes war. Schon als er bei der «Propaganda fide» (der Missionskongregation, Anm.) tätig war, hatte er im Jahr 1925 eine sehr gelungene Ausstellung zum damaligen Heiligen Jahr vorbereitet. Als Papst hat er den ersten afrikanischen Kardinal ernannt und viele einheimische Bischöfe geweiht. Beim Konzil waren dann Bischöfe aus aller Welt vertreten, wobei speziell jene aus Lateinamerika viel Erfahrung eingebracht haben. Auch orthodoxe Bischöfe waren als Beobachter eingeladen, darunter Dimitrios aus Eritrea, der ganz begeistert zurückkehrte.
Frage: Dürfen wir Ihnen auch zwei persönliche Fragen stellen? Hat Ihr Onkel eigentlich Ihre Entscheidung, Ordensfrau zu werden, beeinflusst? Und welche Aufgaben erfüllen Sie heute?
Sr. Roncalli: Mein Onkel hat diese Entscheidung überhaupt nicht beeinflusst. Aber als ich ihm eines Tages meinen Wunsch erzählte, lächelte er und sagte: «Die Comboni-Schwestern kenne ich gut. Als ich als Militärkaplan in Bergamo war, pflegten dort Schwestern die verwundeten Soldaten. Sie kamen manchmal abends zu uns und sangen das Lied 'O cara Africa, mio sol desio' (Oh liebes Afrika, meine einzige Sehnsucht!)»
Ich selbst freue mich, in Eritrea etwas Nützliches zu tun, solange es mir meine Gesundheit erlaubt. Hier im Dorf Embatkalla haben wir Comboni-Schwestern ein neues Besinnungshaus. Ich helfe im Haus und in der Verwaltung mit. Besonders freut mich unser kleiner Kaffee-Anbau im Garten. Es ist ein gutes Klima für den Kaffee hier, und heuer sind die Bohnen besonders groß geworden.
Kathpress