Schwierige Situation in der christlichen Kleinstadt zwischen Jerusalem und Bethlehem - "Tsahal" besetzte Gebäude der evangelisch-lutherischen Kirche, darunter ein Waisenhaus mit 45 Kindern
Jerusalem, 29.8.01 (KAP) Im Zug der Auseinandersetzung zwischen Palästinensern und Israelis hat das israelische Militär (Tsahal) die von palästinensischen Kämpfern als Ausgangspunkt für Angriffe benützte christliche Kleinstadt Beit Jala okkupiert. Dabei wurden unter anderem mehrere Gebäude der evangelisch-lutherischen Kirche besetzt, wie Bischof Munib A. Younan mitteilte. Soldaten hätten auf einem der Gebäude Stellung bezogen, und Panzer wären auf dem Kirchplatz vorgefahren. Außerdem sei das kirchliche Waisenhaus besetzt worden. Wie der Bischof weiter erklärte, hätten die israelischen Militärbehörden über Beit Jala eine Ausgangssperre verhängt, sodaß die kirchlichen Mitarbeiter nicht zu den Kindern gelangen könnten. "Wir suchen nach Möglichkeiten, ihnen Essen und andere notwendige Dinge zu bringen", unterstrich Younan.
"Wir verurteilen auf das Schärfste die israelische Besetzung unserer Gebäude und verlangen, dass sich die Armee sofort zurückzieht und auch Beit Jala verlässt", forderte der lutherische Bischof. Auch versicherte er erneut, dass von den kirchlichen Gebäuden niemals Angriffe auf den nahe gelegenen Jerusalemer Stadtteil Gilo ausgegangen seien. Die israelischen Soldaten beschuldigte der Bischof, Schüsse von ihren Stellungen auf dem Dach des kirchlichen Gebäudes abzugeben. "Dies bringt auch das Leben unserer Kinder in Gefahr", unterstrich der Bischof unter Hinweis auf das Waisenhaus.
Wenige hundert Meter weiter fielen Granaten auf das Gelände des katholischen Priesterseminars. Pater Raed A. Abusahlia, Sprecher des lateinischen Patriarchats in Jerusalem, berichtete, dass die Kämpfe bereits am Vortag begonnen hätten. "Granaten schlugen auch im Gelände unseres Seminars ein", sagte Abusahlia. Es sei kein Schaden angerichtet worden, "aber unsere Studenten, die gerade erst aus den Ferien in Jordanien zurückgekehrt sind, halten sich nur noch in unterirdischen Räumen auf. Die Lage ist sehr angespannt".
Pastor Khader Musallam ist für das evangelisch-lutherische Waisenhaus verantwortlich. Die 45 Kinder zwischen sechs und 17 hätten trotz des ohrenbetäubenden Krachs der Panzergranaten, des Maschinengewehrfeuers und der am Himmel stehenden Kampfhubschrauber in den oberen Etagen des fünf Stockwerke hohen Gebäudes geschlafen. Er berichtete: "Es war ein Uhr Nachts. Draußen sah ich, wie sich die Panzer näherten. Ich ging hinauf und weckte die Kinder behutsam, erklärte ihnen die Lage und bat sie, schnell angezogen nach unten zu kommen".
Traumatisch war seine Begegnung mit einem israelischen Soldaten: "Plötzlich hörte ich laute Faustschläge auf die Fenster und die Türen unseres Gästehauses. Ein Soldat schaute durch das Fenster". Ein Wortwechsel entstand, als der Soldat die Schlüssel zum Gästehaus forderte und der Pastor erwiderte, dass dies ein Gotteshaus sei. "Ich hatte keine Wahl, als nachzugeben", so Musallam. Das "Palästinensische Medienzentrum" beschuldigte die Israelis unterdessen, gezielt "Kinder als lebende Schutzschilde" zu benutzen.
Der israelische Befehlshaber berichtete, dass es "nur sehr geringen Widerstand" gegeben habe. Ein Bewohner von Beit Jala, mit einem Haus nahe dem ebenfalls von den Israelis eingenommenen Flüchtlingslager Aida, erzählte, dass die palästinensischen Sicherheitskräfte mit ihren veralteten Kalaschnikow-Schnellfeuergewehren gar nicht erst versucht hätten, den israelischen Panzern die Stirn zu bieten. "Sie haben sich in ihre Autos gesetzt und sind als erste davon gefahren", erzählte er.
Parallel zu den militärischen Auseinandersetzungen läuft der Propaganda-Krieg mit der Verbreitung von "angeblichen Wahrheiten, Halbwahrheiten oder schlichten Unwahrheiten", wie ein kirchlicher Beobachter in Jerusalem betont. Es sei daher sehr schwierig, den realen Kern des Geschehens herauszuschälen.
Protest gegen Abriegelung von Beit Jala
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat gegen die Abriegelung der palästinensischen Stadt Beit Jala durch israelische Truppen protestiert. Der EKD-Ratsvorsitzende Manfred Kock kritisierte am Dienstagabend in Hannover insbesondere die Einschließung von 50 Kindern mit ihren Erziehern in einem kirchlichen Kinderheim in der zwischen Jerusalem und Bethlehem gelegenen Kleinstadt. Die Eskalation der Gewalt mache vor den Schwächsten nicht halt, bedauerte er. Die eingeschlossenen Buben und Mädchen hätten nichts mehr zu essen. Durch solche Aktionen würden die Aussichten auf eine friedliche Lösung zerstört.
Scharfe Kritik eines Ordensmanns
Die Besetzung des evangelischen Waisenhauses in Beit Jala wurde nach Verhandlungen zwischen Bischof Younan und israelischen Offizieren am Mittwochmorgen wieder aufgehoben.
In scharfer Form kritisierte Pater Stephane Joulain, Mitglied der katholischen kirchlichen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden in Jerusalem ("Justice et Paix") die Vorgänge in Beit Jala. "Tsahal", die Selbstverteidigungskräfte Israels, hätten einmal mehr das Recht verloren, ihren Namen zu tragen, und sich in Angriffskräfte verwandelt.
Pater Joulain, der zum Kloster der Weißen Väter in der historischen Kreuzfahrerkirche St. Anna in Jerusalem gehört, bezeichnete die Okkupation Beit Jalas als dem "Oslo-Abkommen vollkommen widersprechend". Es sei eine "schreckliche Geschichte", dass die israelischen Soldaten ein Waisenhaus besetzt hätten, um sich der 50 Kinder als "menschliche Schutzschilde" zu bedienen.
Unter Ministerpräsident Sharon würden die Grundregeln der Kriegsführung in Frage gestellt, die es u.a. verbieten, "Zivilisten oder gar Kinder" zu "benützen", unterstrich der Ordensmann.
Kathpress
29. august 2001