Der Heilige Stuhl verfolgt mit gespannter Aufmerksamkeit die Entwicklung der internationalen Lage - Der Streit um den "gerechten Krieg" - "Kathpress"-Korrespondentenbericht von Johannes Schidelko
Vatikanstadt, 9.10.01 (KAP) Mit ungewöhnlicher Zurückhaltung hat der Vatikan bislang auf die amerikanisch-britischen Angriffe in Afghanistan reagiert - auf den Beginn der militärischen Anti-Terrormaßnahmen. Papst Johannes Paul II. äußerte bei einer großen Audienz auf dem Petersplatz zwar "Angst und Besorgnis" angesichts der internationalen Situation und rief zum Frieden auf, ging aber nicht näher auf Krisenort und Umstände ein. Der Vatikan müsse sich erst einen genaueren Überblick über Ausmaß, Auswirkungen und Folgen für die Zivilbevölkerung verschaffen, hieß es.
Der Vatikan will offensichtlich bei einer Friedensstimme bleiben, nachdem es jüngst zu erheblicher Verwirrung und Disharmonie gekommen war. Unmittelbar nach den Terroranschlägen in den USA hatte der Papst in der Frage, ob militärische Gegenschläge ethisch legitim wären, nach Meinung mancher Beobachter - auch in den Kommandozentralen der Westmächte - eine starke Nähe zu einem idealen Pazifismus erkennen lassen. Er hatte den Frieden beschworen und jede Gewalt verurteilt, da sie immer nur neue Gewalt, Hass und Spaltungen auslöse. Demgegenüber hatte sein Sprecher Joaquin Navarro-Valls kirchliches Verständnis für militärische Schläge unter bestimmten Bedingungen signalisiert. Als die Medien seine Aussage dann aber auf die These zuspitzten "Grünes Licht des Papstes für US-Gewaltanwendung", musste Navarro-Valls relativieren.
Seither beschäftigt die Frage von Notwehr und Selbstverteidigung sowie deren moralischer Legitimation die Kirchenspitze. Ein Militäreinsatz sei erlaubt, so hört man, wenn bestimmte Kriterien gelten und beachtet werden: Wenn es zur militärischen Gewalt keine Alternative gibt, wenn die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt wird, die Maßnahmen Aussicht auf Erfolg haben und die Zivilbevölkerung geschont wird. Nur dann sei Gewalt als letztes Mittel erlaubt. Zudem müsse Klarheit darüber bestehen, dass es sich nicht um einen Religions- und Kulturkonflikt handle. Ohnehin dürfe Religion nie ein Anlass für Konflikte sein.
Um diesen klassischen Kriterien, wie sie auch der Kirchen-Katechismus auflistet, war es bereits vor und während des Golfkriegs 1991 zu innerkirchlichem Streit und diplomatischer Verstimmung gekommen. Denn wann ist der Verhandlungsspielraum ausgereizt? Was sind angemessene Mittel, gibt es den "chirurgischen Schnitt", der nur den Täter trifft und die Schuldlosen schont? Und welche Opfer darf man der Zivilbevölkerung eben noch zumuten? Im Golfkrieg, in dem sich US-Präsident Bush senior an der Spitze einer breiten Allianz als moralischer Verteidiger der Freiheit gegen einen ungerechten Aggressor fühlte, sah der Papst den Verhandlungsspielraum noch nicht ausgeschöpft. Er beklagte, dass durch die eingesetzten Mittel viele Schuldlose zu Schaden und ums Leben kamen. Und im Nachhinein wurde gefragt, ob die Zerstörungen und Verwüstungen den Preis und Einsatz rechtfertigten.
Diese Fragen stellt man sich auch jetzt in der Kirchenleitung. Besonders Bischöfe aus der arabischen Welt haben sich am Rand der Synode in Rom besorgt über eine mögliche Ausweitung des Konflikts geäußert: Was ist, wenn Bin Laden und die Al-Qaida-Spitze nicht gefangen oder ausgeschaltet werden, wenn immer stärkere Kampfmaßnahmen und -mittel notwendig werden, und die Zivilbevölkerung hohen Blutzoll zahlen muss? Wichtig ist nach ihrer Ansicht, dass das Klima, in dem der Terror gedeiht - die ungerechte Situation in Nahost, vor allem im palästinensisch-israelischen Konflikt - beseitigt wird. Und der Mainzer Kardinal Karl Lehmann forderte weiter, dass man in jedem Fall ein politisches Ziel vor Augen haben müsse für die Stunde nach der Militäraktion: Damit nicht nur ein Wiederaufbau von Steinen erfolgt, sondern ein neues Gemeinwesen entsteht.
K200106432
9. oktober 2001