Israels Armee übernimmt Verantwortung für Schüsse auf armenischen Mönch
Jerusalem, 11.4.02 (KAP) Die Lage um die seit nunmehr zehn Tagen besetzte und belagerte Geburtsbasilika in Bethlehem bleibt angespannt. Die bisherigen Verhandlungen über einen Ausweg waren auch am Mittwoch erfolglos geblieben. "Die Atmosphäre ist weiterhin sehr angespannt", berichtete der Sprecher der Franziskaner-Kustodie im Heiligen Land, P. David Jaeger, im Gespräch mit dem vatikanischen Nachrichtendienst "Fides". Es müsse eine Lösung gefunden werden, "bevor es zu spät ist und es zu weiteren militärischen Auseinandersetzungen kommt".
Unterdessen hat die israelische Armee die Verantwortung für die Schüsse auf einen armenischen Mönch an der Geburtskirche übernommen. Ein israelischer Scharfschütze habe den 23-jährigen Armen Sisilian, den er für einen palästinensischen Terroristen gehalten habe, am Mittwochmittag schwer verletzt, teilte ein Armeesprecher am Mittwochabend mit. Der Ordensmann - ursprünglich wurde er als Mesner bezeichnet - ist Novize im armenischen Kloster an der Geburtskirche. Er hatte an einem Seitenfenster des Gebäudekomplexes Medikamente entgegengenommen. Der Zustand Sisilians, der nach Jerusalem gebracht und operiert wurde, ist laut israelischen Zeitungsberichten vom Donnerstag weiter kritisch, aber stabil.
Die israelische Zeitung "Haaretz" berichtete, dass der Armenier von einem israelischen Trupp beschossen worden sei, der sich im Gästeflügel des Franziskanerklosters eingenistet habe. Nach Auffassung der israelische Armee sei dieser Flügel jedoch nicht Teil des Klosters, sondern gehöre zu einem nahe liegenden Hotel. Diese Sicht werde indes von den Franziskanern bestritten, die darauf bestehen, dass das betreffende Gebäude zum Komplex der Geburtskirche gehöre.
Die eingeschlossenen Franziskaner machten am zehnten Tag der Belagerung erneut auf die schlechte Versorgungslage in der Geburtskirche aufmerksam. Der Guardian des Konvents, P. Johannes Simon, sagte am Donnerstag im Deutschlandfunk, seit Tagen gebe es weder Strom noch Wasser. Zugleich betonte er, dass seine Ordensbrüder jederzeit das Gebäude verlassen könnten. Man bleibe aber dort, da andernfalls bei einem Vorrücken der israelischen Armee schwere Schäden an Geburtskirche und Kloster zu befürchten seien. Er persönlich vertraue der israelischen Armee nicht.
Solidaritätsbesuch des Erzbischofs von Athen
Das Oberhaupt der orthodoxen Kirche von Griechenland, Erzbischof Christodoulos von Athen, ist am Mittwochabend mit einer hochrangigen Delegation nach Jerusalem gereist, um dem griechisch-orthodoxen Patriarchat einen "Solidaritätsbesuch" abzustatten. Am Sonntagabend hatte er in den Kirchen Griechenlands ein Friedensgebet verlesen lassen, in dem von "Schuldigen und Unschuldigen" auf Seiten beider Konfliktparteien die Rede war. Ebenso hatte er bei der israelischen Botschaft in Athen zum Respekt der heiligen Stätten der Christen, besonders der Geburtskirche, aufgefordert.
Israel: Besetzung von Kirchen ist Kriegsverbrechen
Israel sieht die Besetzung von Kirchen im Heiligen Land durch palästinensische Kämpfer als Kriegsverbrechen und als eine Verletzung der Genfer Konventionen an. In einer von der israelischen Botschaft am Heiligen Stuhl verbreiteten Erklärung heißt es, das Eindringen Bewaffneter in Kirchen mit dem Ziel, sich dort zu verschanzen und zu kämpfen, sei ein Missbrauch der Unverletzlichkeit und des besonderen Schutzes dieser Gebäude. Es handle sich um eine "schwere Verletzung des Ersten Zusatzprotokolls der Genfer Konventionen". Darüber hinaus stelle dies ein "Kriegsverbrechen gemäß den Kriterien des internationalen humanitären Rechts" dar.
Weiter heißt es in der Mitteilung wörtlich: "Die Anwesenheit Bewaffneter im Gebäudekomplex der Geburtskirche und ihre Verwicklung in kriegerische Akte macht das Gebäude zu einem 'legitimen militärischen Ziel' und gefährdet das Leben der darin befindlichen Zivilisten und Priester". Daraus ergebe sich eine Verletzung des Prinzips der Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten im Sinne der Vierten Genfer Konvention. In dieser Situation würden die Priester als eine Art Schutzschild benutzt, auch dies könne als Verletzung der Genfer Konventionen und ihrer Zusatzprotokolle angesehen werden.
"Kirche muss Asyl gewähren"
Nach Auffassung der palästinensischen Sprecherin der Arabischen Liga, Hanan Ashrawi, ist die Kirche zur Gewährung von Kirchenasyl verpflichtet. Ashrawi bezeichnete die israelische Darstellung, wonach die Palästinenser die Geburtskirche in Bethlehem gestürmt hätten, im Gespräch mit der deutschen katholischen Nachrichten-Agentur KNA am Donnerstag als "Lüge". Den in der Kirche eingeschlossenen Palästinensern sei gesagt worden, dass sie Asyl erhielten.
Ashrawi wies auch die israelische Darstellung über Schusswechsel zurück. Israel hatte betont, die Soldaten seien aus der Kirche heraus beschossen worden und hätten lediglich zurückgeschossen.
Kirchenrecht: Asyl nicht vorgesehen
Die mittelalterliche Rechtspraxis des Kirchenasyls ist allerdings im derzeit geltenden römischen Kirchenrechtskodex nicht mehr enthalten. Dazu kommt, dass auch die aus den Zeiten der blutigen Familien-Fehden stammende Asyl-Tradition nie ein Asyl für Waffen tragende Personen vorgesehen hatte.
Ashrawi betonte weiter, ihr seien von Kirchenseite keine Klagen über das Verhalten der rund 200 in der Geburtskirche verschanzten Palästinenser zu Ohren gekommen. Sie stehe in Kontakt mit dem lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Michel Sabbah, und mit den Sprechern des griechisch-orthodoxen Patriarchats. Dabei hätte sie sie nie etwas über eine "Entweihung" der Geburtskirche durch die 200 eingedrungenen Palästinenser gehört. Andere Berichte sprechen allerdings davon, dass sich eingeschlossene orthodoxe Mönche darüber beklagt hatten, dass palästinensische Milizionäre in der Kirche essen, rauchen und urinieren.
Israelische Kommentatoren spekulierten am Donnerstag über ein mögliches Ende der israelischen Besetzung um die Geburtskirche. Als Geste guten Willens könnte die Belagerung bis zur Ankunft von US-Außenminister Colin Powell am Donnerstagabend aufgehoben werden, heißt es.
Franziskaner verhandeln über Strom
Unterdessen verhandelt die Franziskanerkustodie im Heiligen Land mit dem israelischen Außenministerium und dem Kultusministerium über die Frage der Strom- und Wasserversorgung. Der Sprecher der Kustodie, P. David Jaeger, betonte im vatikanischen "Fides"-Dienst, die Franziskaner seien erstaunt, dass die israelische Armee die von Griechen und Armeniern bewohnten - und zum Teil auch die von Palästinensern besetzten - Gebäudeteile mit Strom und Wasser versorgt habe, nicht jedoch den Franziskanertrakt. Deshalb frage man sich, ob dies vielleicht "eine Reaktion auf die öffentlichen Stellungnahmen des Ordens in den vergangenen Tagen" sein solle.
P. Jaeger wörtlich: "Keiner unserer Bitten, Anfragen und Beschwerden wurde Gehör geschenkt. Wir hoffen, dass die Weltöffentlichkeit Israel zu milderen Tönen umstimmen kann".
"Sofort Waffen niederlegen"
Der italienische Kardinal Silvano Piovanelli forderte am Donnerstag die palästinensischen Kämpfer in der Geburtskirche auf, ihre Waffen niederzulegen. In einem Kommentar für die Zeitung "Corriere della Sera" schrieb Piovanelli, es seien die Milizionäre gewesen, die als erste die Geburtskirche entweiht hätten, indem sie mit Waffen eingedrungen seien.
Keine Rolle spielt laut Piovanelli, ob die Milizionäre aus politischem Kalkül handelten oder auf der Flucht gewesen seien. Entscheidend sei, dass sie ihre Waffen auch innerhalb des Gebäudes nicht niedergelegt hätten. "Waffen sind mit einem Gotteshaus unvereinbar", erklärte Piovanelli.
Der Kardinal forderte in dem Beitrag die Palästinenser auf, den ersten Schritt zu tun und ihre Waffen den Ordensleuten in der Basilika zu übergeben. Israel müsse als Antwort die Belagerung abbrechen und sich aus Bethlehem zurückziehen.
Von der Geburtsstatt Jesu könne ein "Hoffnungssignal" ausgehen, schrieb Piovanelli. Der Kardinal leitete bis 2001 die Erzdiözese Florenz.
Schüsse auf das Franziskanerkloster
Am Donnerstagnachmittag schlugen mehrere Geschoße in das Franziskanerkloster an der Geburtskirche ein. Wie Pater Ibrahim Faltas einer der eingeschlossenen Ordensleute gegenüber dem Missionsnachrichtendienst "MISNA" berichtete, seien die Schüsse auf verschiedene Bereiche des Klostergebäudes abgegeben worden. Wer die Schüsse abgegeben hat, habe man noch nicht feststellen können. Mindestens vier Fenster des Pilgerhauses "Casa Nostra" der Franziskaner seien zu Bruch gegangen.
Kathpress
11. april 2002