Pacelli-Papst hat nach Ansicht der jüdischen Bibelwissenschaftlerin auch bleibende Verdienste für Volk und Staat Israel erworben
Wien, 22.10.02 (KAP) Die deutsche jüdische Bibelwissenschaftlerin Ruth Lapide hat bei einem Pressegespräch am Dienstag in Wien Widerspruch zur Zeichnung des Bildes Papst Pius' XII. durch den Autor Daniel Goldhagen («Die katholische Kirche und der Holocaust») geäußert. Pius XII. habe Anweisungen zur Rettung von Juden gegeben, etwa der bulgarischen Juden, erinnerte Lapide. Als Gesamtzahl der durch die vatikanische Diplomatie von 1939 bis 1945 geretteten Juden sei mittels der «Land-für-Land»-Recherche ihres verstorbenen Mannes Pinchas Lapide 800.000 ermittelt worden, bestätigte Ruth Lapide: «Das macht Pius XII. jetzt natürlich nicht zum Lebensretter. Natürlich hätten noch mehr gerettet werden können. Aber man darf ihn auch nicht - wie Rolf Hochhuth - zum Buhmann und Verbrecher stempeln.»
Ruth Lapide erinnerte an den Besuch ihres Mannes beim damaligen Patriarchen von Venedig, Giuseppe Roncalli, dem späteren Papst Johannes XXIII. Roncalli habe Lapide empfangen und ihm unter anderem von seiner Zeit als Apostolischer Legat für die Türkei und Griechenland während des Zweiten Weltkriegs erzählt. Jüdischen Bitten entsprechend habe er damals mehrere Tausend Blanko-Taufscheine ausgehändigt, um verfolgte Juden damit zu retten. Diese erfolgreiche Aktion habe später den irreführenden Namen «Unternehmen Taufe» erhalten, wobei jedoch kein einziger Jude getauft wurde. Auf Pinchas Lapides Frage habe Roncalli bestätigt, dass er damals «mit Wissen und im Auftrag Pius' XII. gehandelt» habe.
Warum Fokussierung auf katholische Kirche?
Unverständnis äußerte Ruth Lapide, die den Schrecken des «Reichskristallnacht»-Pogroms von 10. November 1938 in einem Dorf in Franken erlebt hatte, über die einseitige Fokussierung auf Mitschuld und fehlende Wiedergutmachungsleistung der katholischen Kirche. Geschont werde gleichzeitig die evangelische Kirche, das IKRK (Internationales Komitee vom Roten Kreuz) und die USA. Der Thüringer evangelische Bischof Martin Sasse habe den Pogrom 1938 als «gottgesegneten Kampf des Führers zur völligen Befreiung unseres Volkes» und «schönstes Geschenk zum Geburtstag Martin Luthers» gepriesen. Das IKRK habe «alles gewusst und völlig versagt», die USA hätten die Aufforderung des britischen Premiers Winston Churchill von Ende 1944 ignoriert, den Abtransport der ungarischen Juden durch die Bombardierung der Bahngleise nach Auschwitz zu stoppen.
Lapide erinnerte, dass vor 40 Jahren mit dem Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils der «Neubeginn» des Verhältnisses zwischen der Kirche und dem Volk Israel begonnen habe. Die im Dokument «Nostra Aetate» ausgesprochene Einladung, in neuer Sicht auf das Judentum als «ältere Schwester» des Christentums zuzugehen, sei noch immer nicht überall angenommen worden. Es gelte «Schluss zu machen» mit der unbiblischen «Zwei-Götter-Lehre», wonach der Gott des «Alten Testaments» ein Gott der Rache sei, der des Neuen Testaments aber ein Gott der Liebe. Wahr sei vielmehr, dass es in beiden Testamenten «Botschaften der Liebe und Botschaften der Schelte» gebe.
Deutsch-österreichische «Rechtfertigungssuche»
Kritisch äußerte sich Lapide zu der stärker gewordenen Negativ-Einstellung zum Staat Israel auch bei Christen in Deutschland und Österreich. Ein Grund dafür sei die «Rechtfertigungssuche», weil in den früheren Generationen der eigenen Familie fast immer einige Mitglieder gewesen seien, «die mit dem Holocaust etwas zu tun hatten». Dazu komme, dass die Verkündigung der Kirche zum Volk Israel oft immer noch «zweideutig» sei. «Da sollten sich wohlmeinende Christen einschalten», forderte Lapide.
Die Wissenschaftlerin - sie lehrt an der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg - korrigierte die verbreitete Ansicht, wonach der heutige Staat Israel auf das Faktum zurückgehe, dass «Juden Arabern nach dem Ersten Weltkrieg Land wegnahmen». Dies sei völlig falsch; es habe bereits vor 85 Jahren eine große jüdische Bevölkerung im Gebiet gegeben. Zu deren Bewahrung vor einem Genozid nach dem Muster des «Armenischen Holocaust» von 1915 habe sich im übrigen gerade der spätere Papst Pius XII., damals Kuriendiplomat, bleibende Verdienste erworben: «Die türkische Führung unter Djemal Pascha wollte mit den Juden genauso verfahren wie mit den Armeniern. Eugenio Pacelli intervenierte deshalb zu Gunsten der Juden bei der mit Konstantinopel verbündeten Regierung in Berlin. Er hatte Erfolg, und General Falkenhain erhielt den Befehl, für den Schutz der Juden Sorge zu tragen».
Als großer Freund des Volkes und Staates Israel habe sich auch Papst Johannes Paul II. erwiesen, betonte Ruth Lapide: «Jesus wollte sicher kein Staatsgebilde, dennoch gibt es heute einen Staat Vatikan. Ich habe höchste Wertschätzung für das Oberhaupt dieses Staates, Johannes Paul II. Denn er hat sich entschlossen, den Staat Israel anzuerkennen».
Kathpress
22. oktober 2002