In Luzern lehrender österreichischer Theologe analysiert in englischer Zeitschrift «Tablet» Lage der Kirche in der Schweiz
London-Bern, 4.6.04 (KAP) Die katholische Kirche in der Schweiz wird nach Ansicht des Luzerner Theologen Prof. Walter Kirchschläger weiterhin ein «besonderes und aufmerksames Ringen» um Einheit brauchen. Wenn Papst Johannes Paul II. am Samstag zu einem zweitägigen Besuch nach Bern kommt, treffe er eine Kirche, zu der es nirgend anderswo auf der Welt eine Parallele gebe, stellt Kirchschläger in einem Beitrag für die dieswöchige Ausgabe der englischen katholischen Wochenzeitung «The Tablet» fest. Auf Grund ihrer Geschichte und Struktur und der Mentalität der Menschen weise die Schweizer Kirche einen «deutlichen Grad an Unabhängigkeit» auf. Für den Papst sei der Besuch daher - wie schon seine erste Reise in die Schweiz 1984 - «eine besondere Herausforderung», schreibt Kirchschläger.
Die katholische Kirche in der Schweiz sei nach wie vor polarisiert: zwischen stark reformorientierten Kräften, die Rom mangelndes Reformtempo und überzogenen Zentralismus vorhalten, und jenen, die auf Gleichschritt mit der Weltkirche drängen. Die Gemeinschaft mit dem Papst sei für die Bischöfe und einen Teil der Gläubigen von großer Wichtigkeit; andere fragen, wo die Gemeinschaft und Solidarität mit der Ortskirche bleibt - und ob diese nicht auch «ein Zeichen der Einheit ist», so Kirchschläger, der aus Österreich stammt und an der Theologischen Fakultät Luzern den Lehrstuhl für Neues Testament inne hat. Eine jüngste Umfrage habe eine starke Mehrheit für Anliegen wie freiwilligen Priesterzölibat, Zulassung von Frauen zu kirchlichen Ämtern, Bestellung der Bischöfe durch die Ortskirche, Änderung der Haltung gegenüber wiederverheirateten Geschiedenen usw. bestätigt.
Lange demokratische Traditionen
Kirchschläger weist darauf hin, dass die Situation der Kirche in der Schweiz und die heute vorzufindenden Spannungen tief liegende Wurzeln haben. Eine über 700 Jahre dauernde Tradition der Unabhängigkeit, Freiheit und Demokratie könne nicht ohne Einfluss auf die Sicht und Gestaltung von Religion und kirchlicher Praxis bleiben. Zudem habe die stärker synodal organisierte reformierte Kirche auch die Sichtweisen der Katholiken beeinflusst. Die Überzeugung von der grundlegenden Gleichheit aller Bürger spiegle sich nicht nur in der politischen Struktur der Schweiz, sondern auch in der kirchlichen: Es gebe sechs Diözesen mit sechs Bischöfen an der Spitze, aber keine Metropolie mit einem Erzbischof. Kein Bischof weise daher einen höheren Rang auf als ein anderer. «Über lange Zeit hatte die Schweizer Kirche auch keinen Kardinal - ein Faktum, das sich als großer Nachteil erwiesen hat, da sie sich in Rom nicht entsprechend Gehör verschaffen konnte», stellt Kirchschläger fest.
Auch entwickelte sich in der Schweiz ein staatskirchenrechtliches System aus öffentlich-rechtlichen kantonalen kirchlichen Körperschaften, die Kirchensteuern erheben und auch bei der Auswahl von Pfarrern ein entscheidendes Wort haben. Die Bischöfe hätten in diesem System relativ wenig Einflussmöglichkeiten. Die Schweizer Kirche sei «von unten nach oben und nicht von oben nach unten» organisiert, so der Theologe: «Die Folge ist, dass alle Beteiligten gezwungen sind, dem alten Schweizer Prinzip der Suche nach Konsens oder, im Fall eines Konfliktes, nach einem Kompromiss zu folgen».
Die Bischöfe, die finanziell «arm» seien, wären daher stark auf Dialog, Diskussion und die Macht der Überzeugung angewiesen. Ein Teil der Katholiken betrachte das als «Schritt in Richtung eines authentischen Christentums», andere fänden dies «ärgerlich».
Es sei eine «gute Nachricht», wenn sich zu dem Jugendtreffen mit dem Papst in Bern mehr als 10.000 Jugendliche angemeldet haben. Es sei allerdings auch zu hoffen, dass das Motto des Treffens («Steh auf!») nicht nur den Jugendlichen mit auf den Weg gegeben wird, sondern dass dieses Motto der Papst auch nach Rom mitnehme, schrieb Kirchschläger.
Kathpress
4. juni 2004